Eine vision für den mittleren osten

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ONLINE-EXTRA Nr. 74
Juni 2008
EINE VISION FÜR DEN MITTLEREN OSTEN
Chaim Noll
2008 Copyright beim Autor
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Nachfolgender Beitrag ist in gekürzter Fassung erschienen in:
MUT – FORUM FÜR KULTUR, POLITIK UND GESCHICHTE
Juni 2008
2008 Copyright beim Autor
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Chaim Noll
Eine Vision für den Mittleren Osten
Der Mittlere Osten ist eins der politischen Krisengebiete der Erde. Er war es, genau besehen, schon immer. Sumerische Keilschriften, ägyptische Papyri, die biblischen Historienbücher und andere antike Quellen überliefern uns die blutigen Machtkämpfe, Kriege und Völkerschlachten der Region seit Jahrtausenden, zwischen Babyloniern, Assyrern, Persern, Ägyptern, die allesamt für einige Zeit dominierende Grossmacht waren, später in dieser Rolle gefolgt von Griechen und Kleinasiaten unter Alexander dem Grossen, dann von seinen Nachfolgern, den Seleukiden und Ptolemäern, dann von Römern und Byzantinern, auf die im siebten Jahrhundert die von Mohamed geeinten nomadischen Wüstenstämme folgten, die man bis heute – nach einem alten aramäischen Wort für Randlage oder Grenzzone, arava – „Araber“ nennt.
Während der verschiedenen islamischen Regimes schien gelegentlich relative Ruhe in der Region zu herrschen, zumindest von Europa aus gesehen. Der Mittlere Osten entzog sich über Jahrhunderte der europäischen Wahrnehmung, vielleicht liegt hier einer der tieferen Gründe für die generelle Fehleinschätzung, die Krise der Region sei neueren Ursprungs (1). Inner-islamische Konflikte begannen gleich nach Mohameds Tod, mit dem unversöhnlichen, bis heute bestehenden Schisma zwischen Shiiten und Sunniten und zahlreichen anderen Spaltungen. Jahrhunderte lang bekriegten rivalisierende Dynastien und Khalifate einander, Ismailiten, Fatimiden, Ayyubiden, Umayyaden, Abbasiden und andere, der Hass verschiedener Ethnien zeigte sich, die zwar alle den Islam angenommen hatten, oft unter blutigem Zwang, und zwischen denen alte Aversionen fortbestanden und bis heute bestehen, zwischen Arabern und Persern, diesen und den Türken (2). Das osmanische Reich, der letzte islamische Grossverband, zerfiel und zerbrach an inner-islamischen Unverträglichkeiten schon lange vor der Neu-Gründung des Staates Israel. Die Hebräer, Israeliten, Judäer oder – der heute übliche Name – Juden spielen seit Jahrtausenden eine kulturell prägende Rolle in der Region, doch selten eine politisch dominierende. Im Gegenteil, dieses zahlenmässig kleine, flexible, zugleich seiner Tradition verbundene, vor allem durch seine Überlebenskraft bekannte Volk geriet immer wieder zwischen die Fronten einander bekämpfender Grossmächte, etwa Assyriens und Ägyptens oder Babyloniens und Persiens. Permanente Bedrohung durch machthungrige, expansive Nachbarn war über Jahrhunderte das Schicksal, dem Israel und Judäa trotzten. Die eigene Staatlichkeit verloren diese Alteinwohner der Region in einem hoffnungslosen Aufstand gegen die römische Fremdherrschaft um die christliche Zeitenwende, jedoch, wie sich rund zweitausend Jahre später zeigte, nicht für immer. Durch die Evangelien ist diese Periode, die etwa mit der Lebenszeit des Juden Jesus und dem Wirken seiner Apostel koinzidiert, ins weltweite Geschichtsbewusstsein gerückt. Doch der Mittlere Osten war zu allen, auch weniger reflektierten Zeiten ein strategisch bedeutsamer Schnittpunkt von Völkerbewegungen, ein Schauplatz von Kulturkonflikten, Machtkämpfen und Kriegen. Das liegt bereits in der geo-strategischen Situation des Gebiets begründet, im Aufeinandertreffen dreier Erdteile, Europa, Asien, Afrika, dreier Erdteile zumal, in denen sich sehr verschiedene menschliche Konzepte entwickelt haben, zwischen denen bis in unsere Tage wenig Harmonie besteht. Das Wüstengebiet des Sinai und Negev, ein zwischen den beiden Armen des Roten Meeres hängender dreieckiger Landzipfel, bildet das Grenzgebiet, das den eurasischen Kontinent von Afrika trennt. Es ist ein geologisch unruhiges, tektonisch zerrissenes, von Brüchen gezeichnetes Stück Erde (3). In dieser bewegten Gegend soll Moses die Botschaft des Einzigen Gottes empfangen haben, auf den sich Juden und Christen berufen und den die Muslime Jahrhunderte später auf sich zu übereignen versuchten. Die Aneignung des sinaitischen Gottes durch arabische Beduinenstämme stürzte den Mittleren Osten gleich darauf in schreckliche Kriege. Was mit einem heutigen Modewort clash of civilizations genannt wird, ist hierorts seit Jahrtausenden historisches Leitmotiv. Vor dem Hintergrund dieser Geschichte ist das verbreitete Stereotyp, der Unfrieden der Region hätte mit der Neu-Gründung des Staates Israel im zwanzigsten Jahrhundert begonnen, schlicht und einfach Nonsens (4). Im allgemeinen Sprachgebrauch, vor allem der Medien, wird die Vielheit und Komplexität der Probleme im Mittleren Osten meist im Singular „das Nahost-Problem“ genannt. Die Singular-Konstruktion verrät das Bemühen, die überwältigende Fülle des Problematischen auf einen einzigen Grundkonflikt zu reduzieren, der als Chiffre für alles andere dienen und dessen Beilegung folglich der Schlüssel für die Lösung aller Probleme der Region sein soll. Man hat sich angewöhnt, diesen Grundkonflikt im so genannten „Palästinenserkonflikt“ zu sehen, dem schwierigen, oft gewalttätigen Verhältnis zwischen dem neuen Staat Israel und „den Palästinensern“. Dabei stellt bereits der Terminus „die Palästinenser“ eine falsche Pauschalisierung dar, welche die überaus vielschichtige arabische Bevölkerung in und um Israel – verschieden nach Herkunft, Abstammung, Kultur, Religion – auf einen in den Sechziger Jahren von Arafats PLO eingeführten tagespolitischen Terminus reduziert. Ein Volk dieses Namens ist aus der Geschichte nicht bekannt. Die Namensgebung erfolgte durch eine politische Bewegung, die inzwischen zerfallen ist. Unterdessen hat sich erwiesen, dass „der Palästinenserkonflikt“ keineswegs der Schlüssel zur Lösung aller oder auch nur der wesentlichen Probleme des Mittleren Ostens ist. Er hat zum Beispiel mit dem heute die Region dominierenden Konflikt zwischen dem shiitischen Iran und dem sunnitisch-wahabitischen Saudi-Arabien kaum etwas zu tun. Er hat noch weniger zu tun mit dem Konflikt zwischen der Türkei und den im Norden des Irak lebenden Kurden. Oder mit dem Hass zwischen den verschiedenen Fraktionen im Libanon (5). Oder mit den zahllosen anderen inner-islamischen Rivalitäten und tribalistischen Fehden innerhalb mittelöstlicher Staaten oder zwischen ihnen. In Wahrheit lassen sich nicht einmal die verschiedenen Konflikte zwischen Israel und arabischen Bevölkerungen auf dieses Wort festlegen. Das Verhältnis Israels zur Masse der arabischen Bevölkerung ist ein anderes als zu den Terror-Organisationen. Das Verhältnis zu der vom Iran gesteuerten Hamas ein anderes als das zu Mahmud Abbas’ Autonomiebehörde. Zudem gibt es Konflikte mit Palästinensern ebenso in arabischen Ländern, etwa in Jordanien oder Syrien, wo gleichfalls Millionen palästinensischer Flüchtlinge leben und die dortigen Regierungen beunruhigen – sie sind jedoch mit dem Schlagwort „der Palästinenserkonflikt“ offensichtlich nicht gemeint (6). Auch das Verhältnis zwischen Ägypten und den Gaza-Palästinensern ist angespannt und zunehmend gewalttätig. Wenn es einen „Palästinenserkonflikt“ gibt, ist er mindestens ebenso ein inner-arabischer Konflikt wie einer zwischen Arabern und Israel. Die stehende Formel für den Mittleren Osten hiess bisher, die Probleme dürften nicht militärisch, sie müssten politisch gelöst werden. Dieses Grundkonzept ist aus westlicher Sicht konsistent und glaubwürdig, da man in von biblischer Ethik geprägten Gesellschaften friedliche Lösungen moralisch höher schätzt als gewaltsame. Das verhält sich jedoch bei islamischen Staaten und Organisationen oft vollkommen anders. Der Koran zeigt zum Krieg als Mittel der Auseinandersetzung eine affirmative Haltung: der dort gepriesene Zustand des Lebens ist nicht, wie in biblisch geprägtem Denken, ein möglichst dauerhafter politischer Frieden, sondern permanenter Kampf zur weltweiten Durchsetzung des „wahren Glaubens“. Eine friedliche Koexistenz mit „ungläubigen“ Nachbarvölkern ist im Koran nicht vorgesehen. Damit jedoch ein friedlicher Lösungsweg erfolgreich sein kann, müssen alle beteiligten Parteien darum bemüht sein. Sobald eine islamische Bewegung ihre politischen Ziele aus dem jihad-Gebot des Koran herleitet wie die Hamas, erst recht ein mächtiger Staat wie der Iran der Ayatollahs, ist das westliche Konzept von der Bevorzugung friedlicher Problemlösungen zwar ein hochherziger Wunsch, aber in der Realität aussichtslos (7).
In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat der Westen vor allem zwei politische Lösungswege im Mittleren Osten versucht. Der erste ging davon aus, der Schlüssel zu allen mittelöstlichen Problemen sei der „Palästinenserkonflikt“, und suchte diesen durch Schaffung zweier Staaten, Israel und Palästina, beizulegen („Zwei-Staaten-Lösung“). Diesem Ansatz liegt die Zwei-Staaten-Deklaration der UN vom November 1947 zugrunde, die von der Mehrheit der arabischen Staaten bis heute nicht akzeptiert wird, da sie eine de-facto-Anerkennung des Staates Israel einschliesst. Die bisherige Methode der „Zwei-Staaten-Lösung“ bestand, unter dem massenwirksamen Schlagwort „Land für Frieden“, in der Abgabe von derzeit israelisch besetztem Land an „die Palästinenser“, um sie durch ein solches Opfer zur Kooperation und Staatsgründung zu bewegen. Die völkerrechtliche Legitimation dieser Strategie ist fadenscheinig (8), da erstens die Restitution von in Verteidigungskriegen gewonnenem Land keineswegs selbstverständlich ist, zweitens die betreffenden Territorien nie zuvor „den Palästinensern“ gehört hatten, sondern Israels Nachbarstaaten Jordanien und Ägypten. Beide wollen jedoch die fraglichen Gebiete nicht wieder übernehmen, weil sie kein Interesse daran haben, Hunderttausende militante Palästinenser in ihre Staatsgebiete aufzunehmen. Ägypten baut derzeit eine Betonmauer, um die desperaten, von der Hamas aufgehetzten Gaza-Palästinenser von seinem Staatsgebiet fernzuhalten, ein Mittel, zu dem zuvor schon Israel Zuflucht nehmen musste.
Seit Jahrzehnten bemühen sich die westlichen Nationen, Israel eingeschlossen, um den Aufbau eines palästinensischen Staates, den die Bewohner der betreffenden Gebiete offenbar selbst nicht wollen. Wie sonst wäre es zu erklären, dass es ihn trotz riesiger Investitionen, exorbitanter Zugeständnisse, immer wieder bekräftigten Entgegenkommens von westlicher Seite bis heute nicht gibt? Ganz offensichtlich gelingt es den arabischen Bewohnern Gazas und der Westbank nicht, den nötigen inneren Konsens und die elementaren Strukturen für einen Staat aufzubauen, und da dies unverzichtbare Voraussetzung einer Staatsgründung sind, hilft auch das grösste westliche Bemühen nicht weiter. Verfehlt war von Anfang an der westliche Ansatz, den Palästinensern ein sonst nirgendwo in der heutigen Welt denkbares Zugeständnis zu machen: die Judenreinheit ihres geplanten Staatsgebiets. Die Behauptung, ein palästinensischer Staat könne nur gegründet werden, nachdem die auf seinem Gebiet bestehenden jüdischen Siedlungen „geräumt“ wurden, entbehrt jeder historischen Logik und Präzedenz. Die Anwesenheit von Juden in einem Gebiet ist noch niemals und nirgendwo in der Geschichte einer Staatsgründung im Wege gewesen, im Gegenteil, seit der Antike haben zahllose Staaten von jüdischen Minderheiten auf ihrem Gebiet profitiert. Die Gewährung der Judenreinheit verstand die palästinensische Autonomie-Behörde als Lizenz, auch die Christen aus ihrem Gebiet zu vertreiben (9). Gegenwärtige islamische Bewegungen wie die Hamas in Gaza betrachten einen modernen Staat, der mit seinen Nachbarn, darunter Israel, in Frieden leben soll, nicht als Chance für eine bessere Zukunft, sondern als Zumutung und Fessel für ihre historische Mission. Die Aufgabe eines palästinensischen Staates sieht diese Organisation sehr klar: jihad, Kampf gegen den Westen, Vernichtung Israels. Das Gebiet ihres Staates müsste bis zum Mittelmeer reichen, Juden und Christen wären auf seinem Territorium nicht erwünscht. Daran hat die Hamas niemals Zweifel gelassen, es steht offen in ihrer Charta, dem Covenant of the Islamic Resistance Movement Hamas (10). Abgesehen davon, dass die anderen palästinensischen Organisationen ähnliche Ziele haben, tendiert eine Mehrheit der zunehmend jugendlichen, von klein auf militarisierten Palästinenser zum „heiligen Krieg“ der Hamas. Spätestens mit dem Abzug der israelischen Truppen und Siedler aus dem Gaza-Streifen im Sommer 2006 hat sich das Scheitern des Konzepts „Land für Frieden“ offenbart. Die Überlassung von Land an die Gaza-Palästinenser führte nicht zum friedlichen Aufbau eines eigenen Staates, sondern zu Orgien der Zerstörung, zur Machtergreifung einer fundamentalistischen Terror-Organisation, zu Bürgerkrieg und Aggression gegen die Nachbarstaaten Israel und Ägypten. Auch für die Gaza-Bevölkerung waren die Folgen negativ. Mit der Evakuierung der Siedler verloren Zehntausende Gaza-Araber ihre Arbeitsplätze in den jüdischen Landwirtschaftsbetrieben und damit Hunderttausende ihren Unterhalt. Wertvolle Infrastruktur wurde zerstört, landwirtschaftliche Anbaufläche fiel brach. Im ausbrechenden Chaos verliessen die grössten Firmen und Tausende gut ausgebildete Palästinenser das Gebiet, Ärzte, Anwälte, Ingenieure, gerade jene, die man für eine Staatsgründung dringend brauchte. Die terroristischen Gruppen und Milizen, die seither ungehindert über Gaza gebieten, begannen einen Raketen-Krieg gegen Israel, der unweigerlich Gegenaktionen hervorruft. Die Lage der Gaza-Bevölkerung hat sich so sehr verschlechtert, dass sich nicht wenige Gaza-Bewohner die Rückkehr der israelischen Besatzungstruppen wünschen (11).
Indem sich das Unrealistische der „Zwei-Staaten-Lösung“ infolge mangelnden Interesses von palästinensischer Seite erweist, bevorzugen die westlichen Staaten, voran die derzeitige amerikanische Administration, ein anderes politisches Konzept im Mittleren Osten: die Demokratisierung der arabischen Länder der Region, um auf diese Weise eine Koexistenz mit der westlichen Welt möglich zu machen. Zunächst wird darauf gedrängt, in diesen Ländern, die keine gewählten Regierungen haben, überhaupt das Procedere von Wahlen einzuführen.
Auch dieses Vorgehen scheint zunächst nicht sehr erfolgreich. „Von Afghanistan bis Ägypten“, stellte 2006 eine amerikanische Mittelost-Analyse fest, „hat sich in keinem der Länder, in denen im vergangenen Jahr Wahlen stattgefunden haben, die Lage dadurch stabilisiert. Im Irak haben drei Wahlen die Wahrscheinlichkeit eines Auseinanderbrechens oder Bürgerkriegs erhöht und eine korrupte, Iran-freundliche Regierung an die Macht gebracht. In Afghanistan gelangten Drogenbosse in wichtige Machtpositionen. Sogar die Schein-Wahlen in Saudi Arabien und Ägypten führten zum Machtzuwachs religiöser Extremisten. Dann war da noch eine Wahl – oder eher eine Selektion – des grossmäuligen Mahmoud Ahmadinejad im Iran, die das Land noch radikaler hat werden lassen als sogar die herrschenden Mullahs voraussahen. Und nun Hamas bei den Palästinensern.“ (12) Ein deutscher Mittelost-Experte fasste zusammen: „Wenn man religiöse Muslime wählen lässt, wählen sie islamistische Parteien. So ist das. Der Islam kennt keinen Frieden mit ‚Ungläubigen’.“ (13) Wo man versuchte, sich über diese Erfahrung hinwegzusetzen und ein Land zur Demokratie zu erklären, ganz gleich, wie dort wirklich die Lage war, endete es wie im Libanon. „Der Libanon“, verkündete der dortige Premierminister Siniora im Sommer 2006, „ist ein Modell für Demokratie, Toleranz und Offenheit in der Region“. Die Erklärung erschien am 10.Juli, eine Woche vor dem Beginn des zweiten Libanon-Krieges, ausgelöst durch Raketenangriffe der libanesischen Hisballah gegen Israel (14).
Im Mittleren Osten war Demokratie allzeit eine unbekannte Grösse und ist es, mit der einzigen Ausnahme Israel, bis heute. Das Einführen demokratischer Strukturen in arabischen Staaten bedroht die historischen Hierarchien islamischer Männergesellschaften, die sich auf Stammes-Protektionismus, Segregation und einen Moralkodex stützen, den der britische Islamforscher Sir William Muir auf die Kurzformel honor and revenge brachte, Ehre und Rache (15). Frauen haben in dieser Gesellschaft kein Mitspracherecht. Die inner-gesellschaftliche Konstellation wird traditionell bestimmt von der Verachtung des „Anderen“, nicht zur eigenen Gruppe Gehörenden, sei es aus rassischen, religiösen oder anderen Gründen. Die überlieferten Aversionen zwischen Gruppen, Stämmen, Staaten erzeugen eine Atmosphäre permanenter Angst. Der einzige wirkliche Zusammenhalt dieser Gesellschaften beruht in der vom Islam eingeführten „Gemeinschaft der Gläubigen“ und dem dieser Gemeinschaft gebotenen permanenten Kampf gegen die „Ungläubigen“. Wo der Kampf gegen äussere Gegner verhindert wird, besteht die Gefahr, dass der Zusammenhalt verloren geht und die Zerwürfnisse dominieren, seien es die nie vergessenen tribalistischen Rivalitäten der jahiliya-Epoche, ethnische Aversionen zwischen verschiedenen Völkern oder die religiös motivierten Spaltungen innerhalb des Islam wie zwischen Shiiten und Sunniten. Das Konzept einer Demokratisierung des Mittleren Ostens ist sichtlich durch Rückschläge behindert. Sie führen zur Infragestellung des ganzen Anliegens, zu Zweifeln am westlichen „Universalismus“, dessen Grenzen sich im Mittleren Osten zeigten. Die „relativistische Toleranz“ des Westens erweise sich, wie Kritiker feststellen, „als ungeeignet, Menschen einer anderen Werteordnung in unsere Kultur zu integrieren (…) und die Universalisierung der Demokratie verwickelt uns in Regionen, die wir nicht verstehen, und in Kriege, die wir nicht gewinnen“ (16). Dennoch ist das Konzept der Demokratisierung sinnvoller als frühere politische Ansätze. Zunächst ist es nicht mehr blosses Zurückweichen. Es verursacht nicht bereits a priori Schaden für den Westen, indem es den einzigen demokratischen Staat der Region schwächt wie das unbrauchbare Konzept „Land für Frieden“. Die „Rückgabe“ von Gebieten führte nicht, wie beabsichtigt, zur Entstehung eines friedlichen palästinensischen Staates, dafür aber zur Reduzierung des israelischen Territoriums, von dem immer grössere Teile unter Rakentenbeschuss durch islamische Aggressoren geraten. Die Gefährdung Israels, der einzigen Demokratie im Mittleren Osten, ist heute – auch wenn es nicht jeder im Westen versteht – existentiell gefährlich für die gesamte westliche Welt (17). Gegenüber den militanten muslimischen Kräften des Mittleren Ostens ist der Staat Israel, geopolitisch gesehen, der entscheidende Vorposten Europas. Seine Schwächung, sein Fall hätten ähnliche Folgen wie der Fall Konstantinopels unter dem Druck früherer islamischer Expansion, nämlich das Hereinbrechen einer „zerstörenden Gewalt“ über Europa, „die jahrhundertelang seine Kräfte binden und lähmen wird“ (18). Folgt man der These des belgischen Historikers Henri Pirenne in seinem berühmten Werk „Mohammed et Charlemagne“, war die Kontrolle des Mittelmeers durch islamische Invasoren die entscheidende Ursache für den wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang Europas in den sogenannten „dunklen Jahrhunderten“ (19).
Warum, mag man fragen, fühlt sich überhaupt der Westen aufgerufen, die Probleme des Mittleren Ostens zu lösen? Woher dieses Engagement, das zuzeiten den Eindruck erweckt, die Region sei aus westlicher Perspektive der Mittelpunkt der Welt? Neben geopolitischen Gründen, den Vormarsch des Islamismus wenigstens an den Küsten des Mittelmeers zu stoppen, oder dem humanen Motiv, den unter unwürdigen Bedingungen lebenden Menschen der Region beizustehen, stösst man auf die vermutlich wichtigste Ursache der westlichen Verstrickung in Wohl und Wehe des Mittleren Ostens: den Energiebedarf der westlichen Staaten, ihre bisherige Unfähigkeit, ihren Lebensstandard mit anderen Mitteln als denen fossiler Brennstoffe, Erdöl und Erdgas, aufrecht zu erhalten.
Von daher waren die westlichen Staaten bisher permanent erpressbar und zugleich die islamischen Länder in einem unguten, instabilen Zustand gefangen: dem der Schizophrenie zwischen Entwicklungsland und Grossmacht. Nach ihrer Infrastruktur, kulturellen Leistung, Versorgungslage der Bevölkerung, Prozentsatz an Analphabeten, Situation der Frauen etc. gehören die meisten islamischen Staaten des Mittleren Ostens zu den zurückgebliebenen Ländern, doch nach ihren Möglichkeiten, mit dem Erdöl grosse Politik zu machen, sind sie unter den global players, den weltweit einflussreichen Staaten. Das westliche Bemühen, im Sinne reibungsloser Energieversorgung den status quo zu erhalten, folglich auch die abenteuerlichsten Herrscher dieser Länder zu tolerieren, schadet zuerst denen, die unter ihnen zu leiden haben: den Bevölkerungen des Mittleren Ostens.
Ohnehin neigen die Bevölkerungen islamischer Länder zu einem in ihrer Religion und Tradition begründeten Fatalismus, zu einer Hinnahmebereitschaft gegenüber dem Bösen, die uns Westler oft unbegreiflich anmutet. Die absurde Situation unterentwickelter, aber politisch übergewichtiger Erdöl-Staaten nährt den Grössenwahn ihrer Herrschenden und stösst ihre verarmten Bevölkerungen in eine hoffnungslose Lage. Zudem kostet die ängstliche Politik der westlichen Staaten Milliarden Steuergelder ihrer eigenen Bürger. Wo sind die nach Hunderten Millionen zählenden Summen, die von der Europäischen Union an Arafat und sein korruptes Regime überwiesen wurden, wo die Milliarden, die bis zuletzt an Sadam Hussein gingen? In dunklen Kanälen versickert, auf den Privatkonten von Diktatoren, in den Waffenarsenalen terroristischer Organisationen. Bei solcher Politik kann sich die Region Mittlerer Osten nicht entwickeln: die arabischen Erdölstaaten stagnieren in der Monokultur ihrer Rohölproduktion, in der Rolle blosser Rohstofflieferanten. Sie müssen sonst nichts zu Wege bringen, niemand verlangt von ihnen höhere Kulturleistungen, niemand stellt andere Ansprüche an sie als die Pipelines mit dem schmierigen schwarzen Stoff zu füllen, der ihren unentwickelten Trockengebieten entspringt. Sie verharren im Zustand öder Wüsten- und Steppenländer mit im Elend lebenden Bevölkerungen und korrupten Oberschichten, bei denen die westlichen Milliarden hängenbleiben. Sie finanzieren damit nicht selten Terror und jihad. Das vom Westen gezahlte Geld verwandelt sich zum grossen Teil in gegen den Westen gerichtete Gewalt.
Wo liegt der archimedische Punkt? Über Präsident Bush und seine Politik kann man geteilter Meinung sein, doch hat er aller Welt vor Augen geführt, wohin ein vom Erdöl abhängiger Westen mit Notwendigkeit treibt: in Richtung Krieg. In dieser Lage ist nicht nur der Westen, auch andere grosse Energieverbraucher, etwa China, die sich zunehmend um des Erdöls willen in der Region engagieren. Nach wie vor strebt man kurzsichtige Lösungen an, im Rahmen eines längst unerträglichen status quo. Im Kampf um die fossilen Brennstofflager konnte sich West-Europa die Erdölvorräte vor der kaspischen Küste Aserbaidshans sichern, die drittgrössten weltweit nach Saudi Arabien und dem Iraq. Eine gigantische Pipeline durch georgisches Hochgebirge und türkische Landschaften ermöglicht die Zufuhr nach Europa. Für wie lange? Die grundsätzliche Angreifbarkeit und Erpressbarkeit bleibt bestehen. Die Erdöl-Abhängigkeit des Westens macht alle guten Vorsätze westlicher Mittel-Ost-Politik zunichte, auch den Grundsatz, politische Lösungen militärischen vorzuziehen. Wenn aber die Sicherung fossiler Brennstoffe ohne militärische Präsenz nicht mehr möglich ist, sind diese Brennstoffe auch nicht mehr profitabel. Bereits vor dem Irak-Krieg hätte es „jährlich Dutzende Milliarden Dollars gekostet, die Ölfelder des Mittleren Ostens zu verteidigen“, schreibt eine amerikanische Zeitschrift (20). Damit verlieren die fossilen Brennstoffe ihre einzige Attraktivität.
Endlich richtet sich das Augenmerk der führenden westlichen Politiker und Wirtschaftsleute auf einen dritten Lösungsversuch, jenseits der eingespielten politischen oder militärischen Konzepte: die Befreiung der westlichen Staaten aus der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen. Keine schnelle Lösung „des Nahost-Konflikts“, keine Phantasien von einem „sofortigen Frieden in der Region“, keine ruinösen Zugeständnisse um dieses illusorischen Friedens willen, keine weitere Degradierung der mittelöstlichen Völker, sondern die Überwindung des zu Grunde liegenden Energie-Problems. Dafür wird es auch aus anderen Gründen höchste Zeit, vor allem aus ökologischen. Jedes Kind weiss heute, dass die aus Erdöl gewonnenen Brennstoffe Luft und Wasser, Erde und Atmosphäre zerstören, dass unser weiteres Festhalten an ihnen ein Verbrechen an der Zukunft ist.
Rudolf Diesel betrieb seine ersten Dieselmotoren mit Kraftstoff aus Erdnuss- Öl, das erste Auto von Henry Ford fuhr mit Ethanol (21). Erst Ende des 19.Jahrhunderts entdeckte man den Segen des fossilen Öls, einen rein ökonomischen Segen, der sich hundert Jahre später als Fluch erwies. Biologische Brennstoffe sind keine Neuentdeckung, sondern die Rückkehr zu etwas längst Bekanntem: dem Betreiben von Motoren mit Alkohol, der durch biologische Gärung aus Pflanzen gewonnen wird. Man spricht auch von „nachwachsenden Brennstoffen“ (renewable fuel), da Pflanzen immer von neuem angebaut werden können. Hinzu kommen Solar- und Elektro-Energie, deren Umsetzung in die Antriebskraft von Fahr-oder Flugzeugen zunehmend effektiver wird. Der relativ niedrige Wirkungsgrad dieser Maschinen hat den Erdöl-Betrieb trotz wachsender Bedenken und explodierender Schadstoff-Werte noch einige Zeit scheinbar legitimiert, doch auch das ist Vergangenheit. In einigen Ländern konnte der Öl-Bedarf durch biologische Brennstoffe erheblich gesenkt werden. Brasilien, als erstes Land der Welt, machte sich auf diesem Weg ganz von Erdöl-Importen unabhängig. Während des Öl-Embargos der frühen Siebziger Jahre begann die brasilianische Regierung, die Energie-Gewohnheiten ihres Landes durch Subventionierung von Ethanol-Plantagen zu ändern, schon zehn Jahre später fuhren fast alle Autos in Brasilien statt mit dem herkömmlichen Benzin mit Alkohol. Die zur Ethanol-Gewinnung auf Millionen Hektar des riesigen Landes angebaute Pflanze ist Zuckerrohr. Steigende Zuckerpreise führten jedoch in den Neunziger Jahren zu einer Krise der Versorgung mit Ethanol, da die Besitzer der Zuckerplantagen den Zucker lieber ins Ausland verkauften, statt ihn zu Ethanol zu verarbeiten. Die Folge war eine weitgehende Rückkehr zu Benzin-Autos. Dennoch wollten sich die Brasilianer nicht nochmals der Gnade mittelöstlicher Öl-Regimes ausliefern und investierten in eine kluge wissenschaftliche Lösung: die Entwicklung eines Motors, der zwischen beiden Brennstoffen, Benzin und Alkohol, wechseln kann. Flex heisst diese Art Verbrennungsmotor, der seit 2003 in Brasilien üblich ist und heute dominiert: 85% aller Kraftfahrzeuge des Landes können sowohl Benzin als auch Alkohol tanken. Da der Liter Alkohol in Brasilien seit Jahren erheblich billiger ist als der Liter Benzin (Ethanol kostet derzeit etwa 60% des Benzin-Preises), haben die meisten brasilianischen Fahrzeuge seit Jahren kein Benzin verbrannt.
Am Rande sei die Frage gestellt: Da der Flex-Motor bereits vor fünf Jahren entwickelt wurde, und zwar in der Forschungsabteilung von Volkswagen-Brazil, und Volkswagen seine Autos auf der ganzen Welt verkauft – warum wurden dann mit Ethanol betriebene Modelle nicht längst auf der ganzen Welt angeboten? Offenbar kostet es unendliche Mühen, den auf Erdöl eingespielten Energie-Betrieb der meisten Staaten in eine andere Richtung zu bewegen. Was die wissenschaftlichen Möglichkeiten betrifft, leben wir längst in der Post-Erdöl-Epoche. Das weitere Festhalten an fossilen Brennstoffen liegt im Interesse der Erdölindustrie, in unheiliger Allianz mit den Rohöl-Regimes der Dritten Welt. Eine kleine Menschengruppe. Der überwältigende Teil der Menschheit hat Gründe genug, sich von der Tyrannei des Erdöls zu befreien. Es wäre ein Aufatmen für den Planeten Erde. Das brasilianische Modell führte auch zu einem erlösenden Rückgang der Schadstoff-Werte: die Emission von Treibhaus-Gasen bei Produktion und Gebrauch von Ethanol ist dort weniger als halb so gross (44%) wie die von Benzin. Dennoch erwies sich die erste Generation biologischer Brennstoffe noch nicht als ultima ratio. Andere Länder folgten dem brasilianischen Modell, doch sie bauten zur Ethanol-Gewinnung dem dortigen Klima entsprechende Pflanzen an, in den USA beispielsweise – wo der Staat die Produktion biologischer Brennstoffe ermutigt und stark subventioniert – überwiegend Korn und Mais. Wie sich herausstellte, entsteht bei diesen Rohstoffen im Prozess der Alkoholgewinnung wiederum viel Karbondioxyd; die Schadstoff-Emission ist bisher nur 16% geringer als bei Herstellung und Verbrauch von Benzin (22). Ausserdem liegt bei der Gewinnung von Kraftstoff aus Mais der Preis immer noch über dem der Erdöl-Kraftstoffe, weshalb sich die Nordamerikaner nur zögerlich auf den alternativen Brennstoff umstellen. Noch entscheidender spricht gegen den Anbau von Zuckerrohr, Mais oder Getreide, der ersten Generation biologischer Brennstoffe, dass ihre Verarbeitung zu Ethanol ihrer Verwendung als Nahrungsmittel Konkurrenz macht. Angesichts dramatisch steigender Weltmarkt-Preise für Nahrungsmittel wie Mais oder Weizen - die sich im Lauf des Jahres 2007 etwa verdoppelt haben - fürchtet man die weitere Ausbreitung von Ethanol produzierenden Plantagen auf Kosten der Anbaufläche für Nahrungsmittel. Der Wettlauf zwischen dem Bedarf an biologischen Brennstoffen und dem an Nahrungsmitteln spielt sich zudem auf einem Planeten ab, dessen landwirtschaftliche Anbaufläche drastisch zurückgeht. Die Erde befindet sich in einem Prozess der Versteppung oder, wie der international übliche Terminus lautet, desertification. Nach statistischen Angaben der Vereinten Nationen musste während der letzten Jahrzehnte etwa ein Drittel der globalen Anbaufläche wegen Bodenerosion aufgegeben werden. Inzwischen ist die Hälfte der Festlandfläche der Erde davon bedroht (23). Der einzige Weg, die Vorteile biologischer Brennstoffe zu nutzen, ohne den Anbau von Nahrungsmitteln zu verringern, ist das Beiseitelassen aller essbaren Pflanzen, besser noch aller zum Anbau essbarer Pflanzen geeigneten Gebiete. Die Lösung des Problems liegt in der Brennstoff-Gewinnung aus Pflanzen, die nicht traditionelle Nahrungsmittelspender sind: Steppengräser, schnell wachsende Bäume oder Algen. „Dieser Ansatz, verbunden mit effektiveren Fahrzeugen und entgegenkommenden gesellschaftlichen Institutionen“, schreibt das Wissenschaftsmagazin National Geographic, „könnte unseren Bedarf an Benzin bis 2050 hinfällig machen.“ (24).
Da nun ohnehin etwa die Hälfte der irdischen Festlandfläche versteppt oder zu Wüste geworden ist und Trockengebiete und Steppen weltweit expandieren – per Anno etwa um eine Fläche, die dem Territorium Deutschlands entspricht -, liegt es nahe, die neuen Steppen und Halbwüsten zum Anbau biologischer Brennstoffe zu nutzen. Solche Gebiete gibt es heute überall auf der Erde, nicht nur in Afrika, dem Mittleren Osten oder Asien, auch in Territorien der westlichen Welt, zum Beispiel Südeuropa oder Kalifornien (dort oft Folge von Umweltkatastrophen, etwa der inzwischen regelmässigen Wald- und Buschbrände) oder in Südamerika (wo das Abholzen der Regenwälder zu gigantischen Trockengebieten geführt hat). Durch Anbau von Steppenpflanzen würden die brach liegenden, durch ihre fortschreitende Desertifikation gefährlichen Ödflächen schrittweise re-kultiviert und zugleich dem wachsenden Bedarf an biologischen Brennstoffen entsprochen. Hier berühren sich zwei Wissenschafts-Disziplinen der Zukunft: Wüstenforschung und die Erforschung der biologischen Brennstoffe. Das erste europäische Land, das durch Anbau grosser Wälder in Afrika sowohl einen Beitrag zum Kampf gegen die Desertifikation leistet als auch die eigenen Energieprobleme zu lösen beginnt, ist Schweden. Bis 2020 will Schweden von Öl und Gas unabhängig sein. „Seinen Bedarf für Heizung und Elektrizität deckt Schweden schon heute im Wesentlichen mit Wasserkraft, zwei (auslaufenden) Atommeilern, Holz, Holzabfällen, immer mehr Wind und Biomasse, immer weniger Öl und sehr vielen an Industriebetriebe angeschlossenen Blockheizkraftwerken“ (25). Das nächste grosse Projekt zur Überwindung der „Öl-Sucht“ ist der Anbau grosser Wälder in Tansania, auf Landflächen, die sonst brach liegen würden. Nach Angaben der amerikanischen National Geographic Society wurden in jüngster Zeit etwa siebzig Milliarden Dollar in „nachwachsende Energie“ investiert. Die Bush-Administration, von Hause aus eigentlich mit der Erdöl-Lobby liiert, wechselte den Kurs und sagte amerikanischen Forschungsinstituten zweihundert Millionen für die Entwicklung neuer biologischer Brennstoffe zu. Im National Renewable Energy Lab in Golden, Colorado, arbeiten amerikanische Wissenschaftler vor allem an der Umsetzung von Steppengräsern in Cellulose, um daraus Ethanol zu gewinnen (26). Dagegen bevorzugen die Wissenschaftler des Jacob Blaustein Instituts für Wüstenforschung in Sde Boqer, Israel, schnell wachsende Bäume, deren Blätter und Äste zu Cellulose-Masse verarbeitet werden können, ohne die Pflanze als solche und die von ihr gerierten Bio-Systeme im Boden zu zerstören. Sie sehen beim grossflächigen Anbau von Steppengräsern die Gefahr, dass die Anbauflächen nach der Ernte wiederum der Erosion anheim fallen können. Um den zweiten Effekt biologischer Brennstoffe, die Re-Vitalisierung von Trockenland, zu erreichen, bemühen sich Wissenschaftler des Blaustein-Instituts, schnell wachsende Bäume in der Negev-Wüste zu ziehen, ohne künstliche Bewässerung, nach der aus antiken Texten bekannten, von den alten Israeliten, später den Nabatäern benutzen Sturzwasser-Methode (27). Wissenschaftler der Ben-Gurion Universität in Beer Sheva untersuchen sogar Möglichkeiten, aus landwirtschaftlichen Abfällen (agricultural waste), Abwasser-Schlamm (sewage sludge) oder Seegras die zur Entstehung von Ethanol nötige Cellulose-Masse zu gewinnen (28). Als grosse Hoffnung auf dem Gebiet der biologischen Brennstoffe gelten Algen, gezüchtet in high-density-Anlagen unter Ausnutzung von Sonnenenergie, wozu sich – als Ort riesiger Röhrensysteme oder Teich-Anlagen - gleichfalls Wüstengebiete eignen. Als photosynthetisierende Organismen setzen Algen keinen Schwefelwasserstoff frei, sind nicht toxisch, können schnell biologisch abgebaut werden und produzieren auf gleicher Fläche bis zu dreissig Mal mehr Kraftstoff als herkömmliches Bio-Öl. Amerikanische Wissenschaftler sehen hier eine reale Chance, die Vereinigten Staaten, bis heute auf den Import fossiler Brennstoffe angewiesen, in absehbarer Zukunft energiewirtschaftlich unabhängig zu machen (29). Auch in Israel gibt es erste Algenfarmen, die Kraftstoff ohne Treibhausgase produzieren. Sogar die Öl-Hochburg Abu Dhabi am Persischen Golf plant mit Hilfe von Algenfarmen und anderem Anbau den allmählichen Ausstieg aus der Erdöl-Abhängigkeit, zunächst eine ganz durch „renewable energy“ versorgte Wüstenstadt, Masdar, ein Modell für die Zukunft, „wenn eines Tages das Öl zu fliessen aufhört“. Fünfzehn Milliarden Dollar will die Regierung des Ölstaates, wie Sheikh Mohamed Bin Zayed Al Nahyan ankündigte, in das Bio-Energie-Projekt investieren (30).
Biologische Brennstoffe sind einer der Wege, die moderne Welt aus der unheilvollen Abhängigkeit vom Erdöl zu erlösen. Zugleich wurden in jüngster Zeit entscheidende Fortschritte in der Umsetzung von Solar-Energie in elektrischen Strom erzielt und erste aufladbare Batterien für Elektro-Autos hergestellt (31). Die Massenproduktion von Solar- und Elektro-Autos hat begonnen, in wachsenden Mengen und in steigender Effizienz werden biologische Brennstoffe hergestellt. Die Unabhängigkeit vom Erdöl ist kein Traum, sie beginnt Realität zu werden. Die zunehmende Freiheit des Westens wird bald spürbar werden: in neuen Ansätzen zur Politik im Mittleren Osten. Es wird möglich sein, die Region ohne die bisherige Hysterie zu betrachten, ohne Angst vor der scheinbar unerschütterlichen Macht der Erdöl-Regimes. Man wird eine Zukunft ins Auge fassen können, jenseits überlebter Begriffe, frei von gewohnten Vorurteilen, offen für die wirkliche Lage der Menschen. Es wird möglich sein, despotische Regimes in Frage zu stellen, ihnen zu widerstehen und den eigenen Ideen von Menschlichkeit zu folgen. Der Staat der Juden im Mittleren Osten wird weiterhin bestehen, Juden und Christen werden in der Region leben dürfen, ohne um ihr Leben fürchten zu müssen. Auch für die islamischen Völker kann sich die Lage nur verbessern. Die Frauen und Kinder der Muslime werden Möglichkeiten entdecken, die ihnen eine zurückgebliebene Region bisher verweigerte. CHAIM NOLL, 2008
Quellen, Anmerkungen:
(1) Vor Karsten Niebuhrs Reise (1762) sind Reisen von Europäern nach Arabien kaum bekannt. Reisen in islamische Reiche des Mittleren Ostens waren Christen über Jahrhunderte versagt. Zu den wenigen nicht-muslimischen Quellen der Reise-Literatur siehe Richard F.Burton, Pilgrimage to El-Medinah and Meccah, London 1855/6, vol.II. Der Autor führt nur drei europäische Vorgänger seit 1500 an, die zum Islam zwangsbekehrt wurden (sog. renegades); er selbst reiste als Muslim verkleidet. Vgl. a. M.Kunze (Hg.) Reisen in den Orient vom 13.bis 19.Jahrhundert, Winckelmann-Gesellschaft Stendal, 2007 (2) Zu Aversionen zwischen Arabern und Persern und Arabern und Türken innerhalb islamischer Reiche vgl. Ignaz Goldziher, Muhammedanischen Studien, Hildesheim 1961, besonders, Bd.1, S. 136 ff., 268 ff. u.a. Auch R.F.Burton (a.a.O., vol.I, p.56) weist darauf hin, dass die Türken, mit denen er nach Medinah reiste, ihren erklärten Stolz darin sahen, arabische Bräuche grundsätzlich zu ignorieren. Über inner-arabischen Hass zwischen verschiedenen Stämmen, Landschaften etc. Goldziher, a.a.O., Bd.1., S.40ff. und H.R.P.Dickson, The Arab of the Desert, London 1967 (3) vgl. A.Suchantke/H.U.Schmutz/W.Schad/W.Fackler: Mitte der Erde. Israel und Palästina im Brennpunkt natur- und kulturgeschichtlicher Entwicklungen. Stuttgart, 1996, S.271 ff. (4) vgl. Chaim Noll: Wahnehmungsstörungen. In: Lea Fleischmann/Chaim Noll: Meine Sprache wohnt woanders, Frankfurt/M., 2006 (5) Vgl. die Ausssagen des früheren libenesischen Premierministers Amin Gemayel: „Interarab rivalries are exacerbating the political crisis in Lebanon and threatening civil peace in the country” etc., Guysen International News, March 27, 2008 (6) Nach Angaben der UNRWA (United Nations Works and Relief Agency for Palestine Refugees in the Near East) leben 42% der palästinensischen Flüchtlinge in Jordanien, 22% in Gaza, 16% in der Westbank, 10% in Syrien und 10% im Libanon (2001). Staaten wie Libyen oder Kuwait haben sich ihrer Flüchtlinge durch Ausweisung oder Vertreibung entledigt. (7) Das Grundsatzpapier der Hamas, The Covenant of the Islamic Resistance Movement Hamas (englische Veröffentlichung: Middle East Media Research Institute, Berlin, 2006) leitet die Notwendigkeit zu Bekämpfung und Vernichtung Israels aus verschiedenen Koran-Versen ab, vor allem aus 3;110ff., 2;120, 59;13 u.a. sowie aus Hadith-Stellen. Unter Berufung auf Koran 8;16 wird jede Weigerung, den Zionismus zu bekämpfen, für „Hochverrat“ erklärt (Artide 32). Die Konklusion zwischen religiösen Geboten des Koran und der Zerstörung Israels wird von Hamas-Funktionären immer wieder betont. Etwa dieser Tage vom palästinensischen Parlamentarier Yanis El-Astel: „The destruction and extermination of the Jews has a legal justification in the Koran”. Guysen News, 18.3.2008 (8) vgl.Alan Dershowitz, The Case for Israel, New York 2003, vor allem (9) Über die Vertreibung der Christen aus den von der Palästinensischen Autonomiebehörde verwalteten Gebieten: Ulrich W.Sahm: Christen fliehen aus Bethlehem, Katholische Nachrichtenagentur KNA, 7.5.2004, Dark Days in Bethlehem, Newsweek Magazine, 29.9.2003, und Chaim Noll: Kampf dem Fluch vom Sinai, Die Welt, Berlin, 24.4.2008 (10) vgl. The Covenant of the Islamic Resistance Movement Hamas, a.a.O., Artide 11: “Palestine is an Islamic Waqf (i.e.an Islamic Religious Endowment)” (11) HaModia, Jerusalem, 9.8.2007(12) Time Magazine, 30.1.2006(13) Peter Scholl-Latour, Interview mit der deutschen Zeitschrift stern zum (14) Time Magazine, 10.7.2006(15) Sir William Muir, The forefathers of Mahomet and history of Mecca, Calcutta Review, nr.XLIII, 1854, zit.n. Ignaz Goldziher, Muhammedanische Studien, a.a.O. Bd.1, S.13, Fussnote 5 (16) Heinz Theisen. Der Westen im Konflikt der Kulturen. Europa und Amerika zwischen Überdehnung und Selbstbegrenzung. Mut, Forum für Kultur, Politik und Geschichte, Nr.485, Januar 2008, S.44 ff.
(17) Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gehört zu den wenigen europäischen Politikern, die diesen Zusammenhang offen auszusprechen wagen. Während ihres Besuchs in Israel erklärte sie am 18.3.2008: „Germany considers the threats againast Israel as threats against us as well.“ Vgl. HaAretz, Tel Aviv, online-Ausgabe vom selben Tag, (18) Stefan Zweig: Kerka Porta – die vergessene Tür. In: Sternstunden der Menschheit. Historische Miniaturen, Frankfurt, 1964 (19) Henri Pirenne: Mohammed and Charlemagne, London 1939, besonders Kapitel 2,1, The Islamic Invasion, pp.147 (20) National Geographic (Official Journal of the National Geograpghic Society, USA), October 2007, Vol.212, No.4, p.42: “…tens of Billions of Dollars annually to defend oil fiels in the Middle East – even before the war in Iraq.” (21) ibd., p.42(22) ibd. p.44: “The process gives off large amounts of carbon dioxide (…) Most ethanol plants burn natural gas or, increasingly, coal to create the steam that drives the destillation, adding fossil-fuel emissions to the carbon dioxide omitted by the yeast. Growing the corn requires nitrogen fertilizer, made with natural gas, and heavy use of diesel farm machinery. Some studies of the energy balance of corn ethanol (…) suggest that ethanol is a loser’s game, requiring more carbon-emitting fossil than it displaces. Others give it a slight advantage. But however the accounting is done, corn ethanol is no greenhouse panacea.” (23) vgl. Chaim Noll, The Desert: Science, Mystery, Potential, Catastrophe. PEN International Magazine, London, Vol.57, Nr.2, Winter 2007, p.86 (24) National Geographic, October 2007, p.42 (25) Maritta Tkalec, Mobil ohne Öl. Schweden löst sich aus der Abhängigkeit von fossilen Treibstoffen und ersetzt sie durch die zweite Generation Biosprit. Berliner Zeitung. Nr.98, 26/27.April 2008, S.8 (26) National Geographic, October 2007, p.53. Bevorzugte Pflanzen bisher vor allem switchgrass (panicum vigatum), buffalo grass (Buchloe dactyloides), Sudangrass (Sorgum Sudanese), Hanf oder Miscanthus.
(27) Auskunft Prof.Pedro Berliner, The Jacob Blaustein Institute for Desert Research, Ben Gurion University of the Negev, Sde Boqer, Israel, am 18.2.2008: Man setze vor allem auf schnell wachsende Bäume, von denen man nur Teile abschneidet, Äste, Zweige und Blätter, um sie zu Zellulose-Masse zu verarbeiten, eine Art radikales Beschneiden, das diesen Bäumen nicht schadet. In der Versuchsfarm Mashash Tsomet ha Negev werden schon jetzt „gute Ergebnisse ohne künstliche Bewässerung“ erzielt.
(28) Z.Rinat, What if seaweed could powert he world? HaAretz, Tel Aviv, (29) National Geographic, October 2007, pp.54(30) Time Magazine, 25.2.2008, pp.37: „Abu Dhabi is investing billions in oil and gas profits to turn itself into the world’s leader in renewable energy“ (31) In Israel wird derzeit von Renault-Nissan die erste Fabrikanlage zur Herstellung elektrisch betriebener Autos erbaut, die 2010 mit der Massenproduktion beginnen soll. Dieses Elektro-Auto basiert auf dem Patent eines israelischen Ingenieurs, der eine wirtschaftlich effektive, schnell wieder aufladbare Batterie entwickelt hat. DER AUTOR
CHAIM NOLL ursprünglich Hans Noll, wurde 1954 als Sohn des Schriftstellers
Dieter Noll in Berlin (Ost) geboren. Dem Studium der Mathematik in Berlin und Jena
folgt ein Studium der Kunst und Kunstgeschichte. Noll war Meisterschüler der
Akademie der Künste. Anfang der 80er Jahre verweigert er den Wehrdienst und wird
in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Chaim Noll löst sich aus seinen Bindungen
an Staat und Partei, was zugleich den Bruch mit seinem Vater nach sich zieht. 1984
wird Noll ausgebürgert, geht in den Westen, arbeitet als Journalist und beginnt eine
Karriere als Schriftsteller.
Von 1992 bis 1995 lebt er in Rom und geht von dort nach Israel, wo er 1998 eingebürgert wird. Er lebt heute in der Wüste Negev und ist Writer in Residence und Dozent am Center for International Student Programs der Ben Gurion Universität Beer Sheva. Zu seinem schriftstellerischen Werk gehören Gedichte, Erzählungen, Romane und Essays.
Chaim Noll steht gerne für Vorträge oder Lesungen zur Verfügung.
Anfragen richten Sie bitte an:
Betreff: Noll Einladung
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